zur Entscheidung der Bundesregierung über die Streichung des Begriffs Rasse aus dem Grundgesetz
Der Vorstand fordert, dass kein Verfassungsänderungsprozess ohne vorherige Konsultation mit Vertreter*innen aus der von Rassismus betroffenen Zivilgesellschaft sowie der Wissenschaft eingeleitet wird. Die Bundesregierung kann nicht im Alleingang eine Grundgesetzänderung beschließen, die jeglicher Notwendigkeit entbehrt und noch dazu Risiken für rassifizierte Gruppen birgt. Es gilt der Grundsatz, dass nicht über uns, ohne uns, entschieden werden darf.
Der Vorstand der Kaneza Foundation for Dialogue and Empowerment e.V. nimmt hiermit Stellung zur Entscheidung der Bundesregierung, Rasse als Rechtsbegriff aus dem Grundgesetz zu streichen. Der Vorstand nutzt diesen Anlass, um auf die Schutzlücken aufmerksam zu machen, die eine Streichung für betroffene Gruppen zur Folge haben kann.
Es gibt keine Menschenrassen. Theorien und Ideologien, die die Existenz von verschiedenen Menschenrassen propagieren, sind abzulehnen und zu bekämpfen. Auf diese wissenschaftliche Erkenntnis beruhen die Menschenrechte. Die in den menschenrechtlichen Verträgen und auch im Unionsrecht verankerten Benachteiligungsverbote aufgrund von Rasse implizieren nicht, dass damit Rassentheorien bestätigt werden. Rasse ist kein tatsächliches Merkmal im Recht und kann nicht auf eine biologische Interpretation verkürzt werden. Vielmehr steht Rasse als Rechtsbegriff für die menschenrechtliche Garantie, dass rassifizierte Gruppen keine Ungleichbehandlung erfahren dürfen. Der universelle menschenrechtliche Standard, ausgehend von den rechtsverbindlichen menschenrechtlichen Verträgen, schützt Rasse als Diskriminierungsgrund und erkennt aus Gründen der Rasse benachteiligte und verfolgte Personen und Gruppen an. Als soziale Kategorie dient der Begriff zudem als Instrument, um soziale Ungleichheiten sichtbar und Diskriminierung messbar zu machen.
Der Vorstand nimmt zur Kenntnis, dass sich die Bundesregierung der Rassismusbekämpfung nun stärker widmen möchte und damit ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen nachkommt. Die Entscheidungen, einen Kabinettausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus einzuberufen, eine Untersuchung des Polizeialltags und die Schaffung der Position einer Anti-rassismusbeauftragten auf den Weg zu bringen, sind, angesichts des anhaltenden Rassismus, Antisemitismus und der rechten Gewalt in unserer Gesellschaft, zu begrüßen. Aus der Sicht des Vorstands gehört auch die Diskussion über den Umgang mit dem Rassebegriff im deutschen Recht zur Auseinandersetzung mit Rassismus in unserem Land. Mit der Entscheidung, den Rassebegriff zu streichen, greift die Bundesregierung jedoch dieser Auseinandersetzung vor. Auch wurden nicht die Ergebnisse der Arbeit des Kabinettausschusses sowie die angekündigte Untersuchung abgewartet. Der Entscheidung ist zudem keiner Konsultation mit Expertise aus der Betroffenenperspektive vorausgegangen. Es fehlt grundsätzlich eine langfristige Strategie für Anti-Rassismus in Deutschland. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welches Ziel die Bundesregierung mit der Streichung zum jetzigen Zeitpunkt verfolgt. Wird etwa fälschlicherweise angenommen, dass es sich bei der Streichung bzw. Ersetzung des Begriffs Rasse um eine Maßnahme gegen den Rassismus handeln würde?
Die Entscheidung der Regierungskoalition ist besorgniserregend, da mit ihr das in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG verankerte Benachteiligungsverbot und somit ein elementares Grundrecht berührt wird. Es entspricht dem allgemeinen Rechtsverständnis, dass Rasse in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG in Verbindung zur Unantastbarkeit der Menschenwürde steht. Die historische Kontextualisierung des Benachteiligungsverbots sind die Verbrechen des Nationalsozialismus und die Erfahrung des Holocaust. Darauf beruhte auch die Schaffung der internationalen Menschenrechtsinfrastruktur, beginnend mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Die deutsche Erfahrung diente somit als Grundlage für ein internationales Bewusstsein dafür, dass Menschenrechte kodifiziert werden müssen, damit sich „rassische“ Verfolgung und Benachteiligung nirgendwo wiederholen können. Leider ist in Deutschland und in anderen Teilen der Welt struktureller Rassismus nach wie vor existent. Deshalb ist die Benennung rassifizierter Gruppen für einen wirksamen Diskriminierungsschutz nach wie vor unabdingbar.
Der Vorstand möchte mit dieser Stellungnahme über die Schutzlücken warnen, die eine voreilige Streichung des Rassebegriffs zur Folge haben kann:
- Mit der Streichung verschwindet eine personenbezogene Diskriminierungskategorie, die die strukturelle Dimension von Rassismus anerkennt und rassifizierten Gruppen ein Abwehrrecht gegen den Staat gibt. Mit einem Ersatz wie etwa „ethnische Herkunft“ wird die Realität der betroffenen Gruppen nicht abgedeckt, da nicht alle auf Rasse basierten Benachteiligungen durch diese Diskriminierungskategorie erfasst werden. Die Diskriminierungsgründe Rasse und ethnische Herkunft sind nicht austauschbar. So handelt es sich bei Schwarzen Menschen und People of Color in Deutschland nicht um ethnische Zugehörigkeiten. Die EU-Richtlinie 2000/43 EG und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz führen deshalb Rasse und ethnische Herkunft als anerkannte Diskriminierungsgründe auf. Ebenso enthält das „Internationale Übereinkommen zur Beseitigung aller Formen der Rassendiskriminierung“ Rasse und ethnische Herkunft als Gründe der „rassischen“ Diskriminierung. Andere völkerrechtliche Dokumente erkennen jedoch nur Rasse an;
- Das Antidiskriminierungsrecht gewährleistet nicht nur ein Benachteiligungsverbot, sondern gibt Betroffenen von Rassismus einen rechtlichen Anspruch auf positive Maßnahmen. Mit der Streichung der personenbezogenen Diskriminierungskategorie Rasse wird es ihnen erschwert, sich auf ihr Recht auf Gleichberechtigung zu berufen. Die Fixierung auf die rassistische Zuschreibung verkennt die positive und selbstermächtigende Geltungsmöglichkeiten für Betroffene. So handelt es sich bei Bezeichnungen wie Schwarzen Menschen und People of Color nicht um rassistische Zuschreibungen, sondern um gewandelte und emanzipatorische Selbstbezeichnungen;
- Mit der Streichung wird die Benennung der Intersektionalität, die zwischen Rasse und den übrigen personenbezogenen Diskriminierungskategorien von Art. 3 Abs. 3 GG, vor allem Geschlecht, Abstammung, soziale Herkunft, religiöse oder politische Anschauung und Behinderung, besteht, verhindert. Nicht nur die unmittelbare und eindimensionale Diskriminierung steht im Fokus des Antidiskriminierungsrechts, sondern auch die mittelbare, mehrfache und intersektionelle Benachteiligung. Ohne einen Fokus auf die Betroffenen zu setzen, sind diese Diskriminierungsdimensionen nicht erfassbar;
- Politische Maßnahmen, die der Anerkennung und den Schutz von Schwarzen Menschen und People of Color gelten sollen, verlieren ihre rechtliche Grundlage, auf die sich betroffene Gruppen berufen können.
Angesichts dieser möglichen negativen Rechtsfolgen und der noch nicht ausreichend untersuchten Lebensrealitäten rassifizierter Gruppen in Deutschland, stellt eine Grundgesetzänderung eine Fahrlässigkeit dar. Bereits jetzt ist der Diskriminierungsschutz in Deutschland nicht ausreichend gewährleistet – die NSU-Morde, die rassistischen Anschläge von Halle und Hanau und weitere Angriffe auf Minderheiten machen staatliche Versäumnisse sehr deutlich. Die Bundesregierung sollte daher vielmehr den Fokus auf den Rechtschutz für Opfer von Rassismus und rechter Gewalt, die Erfassung des Rassismus in Deutschland sowie die überfällige Umsetzung von europäischen und internationalen Vorgaben für die Rassismusbekämpfung legen. Dazu zählen die Empfehlungen der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), des „VN-Ausschusses für die Beseitigung der Rassendiskriminierung“ sowie der Internationalen Dekade für Menschen afrikanischer Abstammung. Ebenso sollte die Bundesregierung wirksame Maßnahmen im Rahmen des neu entwickelten Aktionsplans der Europäischen Kommission gegen Rassismus für 2020 – 2025 umsetzen.
Der Vorstand fordert, dass kein Verfassungsänderungsprozess ohne vorherige Konsultation mit Vertreter*innen aus der von Rassismus betroffenen Zivilgesellschaft sowie der Wissenschaft eingeleitet wird. In diesem Rahmen soll der Rassebegriff aus grund- und menschenrechtlicher Perspektive thematisiert werden. Die Bundesregierung kann nicht im Alleingang eine Grundgesetzänderung beschließen, die jeglicher Notwendigkeit entbehrt und noch dazu Risiken für rassifizierte Gruppen birgt. Es gilt der Grundsatz, dass nicht über uns, ohne uns, entschieden werden darf.
Für den Vorstand:
Elisabeth Kaneza
Marisa Twahirwa
Tmnit Zere
Fatbardh Kqiku
Omelie Impundu
Kaneza Foundation_Stellungnahme_ Rassebegriff im Grundgesetz